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Bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird; aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt!

Die Geschichte dieser Woche ist Die Nachtigall von Hans Christian Andersen. Es ist ein wunderbares Märchen über den Zauber des Vogelgesangs, man könnte vielleicht auch allgemein sagen: über den Zauber der Musik. In der Geschichte hat das Lied der Nachtigall einen großen Einfluss auf die Menschen, aber im Laufe der Zeit wird es durch das Lied ersetzt, das von einem mechanischen Aufziehspielzeug produziert wird.

Die Geschichte lässt uns über Echtheit und Lebendigkeit nachdenken und warum wir sie brauchen – auch wenn dies mit Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit einhergeht. Mach dir wie immer unterwegs Notizen zu deinen Gedanken und Gefühlen und markiere dir vielleicht Wörter oder Sätze, die dir besonders auffallen …

Denkanstöße

Wie fühlst du dich jetzt, nachdem du dieses Märchen gelesen hast? Welche Gedanken gehen dir durch den Kopf? Gab es Teile in der Geschichte, die dich besonders bewegt haben? Die Beschreibung des kaiserlichen Gartens mit seinen ungewöhnlichen Blumen, großen Bäumen und tiefen Seen versetzt mich irgendwie gleich an einen magischen Ort. Aber lass uns etwas tiefer über die Hauptperson, die Nachtigall, nachdenken. Es ist interessant, dass der Kaiser und sein Hofstaat die Einzigen sind, die ihr schönes Lied anscheinend noch nie gehört haben. Neben der ganzen Welt sind es die armen Fischer und ein armes Mädchen, die um den wunderschönen Gesang der Nachtigall wissen, und die diesen Vogel überhaupt kennen. Ich frage mich, was diese Information möglicherweise bedeutet? Als der Kaiser das Lied der Nachtigall endlich zu hören bekommt, bewegt ihn das tief:

Alle waren in ihrem größten Putz, und alle sahen nach dem kleinen grauen Vogel, dem der Kaiser zunickte. Und die Nachtigall sang so herrlich, dass dem Kaiser die Tränen in die Augen traten. Die Tränen liefen ihm über die Wangen hernieder und da sang die Nachtigall noch schöner: Das ging recht zu Herzen.

Aber so wie der Mensch eben ist: Er versucht, die Natur nachzumachen bzw. einen noch perfekteren, künstlichen Vogel herzustellen. Es ist interessant, über die Unterschiede zwischen den beiden Vögeln nachzudenken und darüber, wie es vielleicht einen Platz für beide in der Welt geben kann. In der Geschichte werden sie jedoch miteinander verglichen und es sieht so aus, als ob die echte Nachtigall nicht mit ihrem künstlichen Pendant, dem Ergebnis von menschlicher Logik und Mechanik, mithalten kann. Es ist traurig, wie leicht und schnell die Nachtigall ersetzt und aus dem Land verbannt wird. Nur den Fischern fällt auf: Die Melodien gleichen sich auch; aber es fehlt etwas, ich weiß nicht, was! Aber am Ende ändert sich doch alles:

„Immer musst du bei mir bleiben!“, sagte der Kaiser. „Du sollst nur singen, wenn du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend Stücke.“
„Tue das nicht!“, sagte die Nachtigall. „Der hat ja das Gute getan, so lange er konnte! Behalte ihn wie bisher! Ich kann im Schlosse nicht mein Nest bauen und wohnen; aber lass mich kommen, wenn ich selbst Lust habe
.“

Beide Vögel können einen Platz auf der Welt haben, aber sie sind nicht austauschbar. Der mechanische Vogel ist statisch und kann im Schloss bleiben, aber das ist kein Leben für den echten Vogel. Und was ist mit dem Kaiser, der vom Totenbett wieder aufsteht und Guten Morgen sagt? Hat er vielleicht nur Zeit braucht, um herauszufinden und zu artikulieren, was sein Weg ist?… Zeit für ein Gedicht.

Interludium: Musik

Manchmal gibt es Gedichte, bei denen du dir während des Lesens denkst: ok, einige Bilder, schöne Worte, die Botschaft ist klar. Nichts, was ich nicht verstehe oder greifen kann. Aber dann liest du es noch einmal und noch einmal , du liest es leise, du liest es laut, und immer bleibst du an einer anderen Stelle hängen und denkst dir: Nein, es ist doch nicht so offensichtlich. Das könnte ja auch anders gedeutet werden. Und plötzlich öffnet sich eine ungeahnte Tiefe – bei mir macht es dann Plopp! – und wenn ich dann das Gedicht noch einmal lese, sehe ich auf einmal nicht mehr die Einzelteile, sondern alle Bedeutungsschichten sind auf einen Schlag gleichzeitig da und können gefühlt werden.

Es ist so, als ob du die Mona Lisa anschaust und das ganze Bild WIRKT. Du siehst nicht den geheimnisvollen Mund oder die schönen Augen, den Sessel, auf dem sie so anmutig sitzt…, sondern du atmest gleichsam die Schönheit ein. – Ich bemerke gerade, wie schwer es ist, etwas zu beschreiben, was nicht zu beschreiben ist. Aber egal, du machst dir selbst ein Bild (-:

Denkanstöße

Wie geht es dir jetzt nach dem Lesen? Kannst du meine unbeholfene Beschreibung nachvollziehen?

Wüsste ich, für wen ich spiele, ach! immer könnt ich rauschen wie der Bach. Was ist daran schwierig zu verstehen? Nichts. Und doch bleibe ich am …rauschen wie der Bach hängen. Ein Bach rauscht pausenlos dahin, hört niemals auf, egal, ob ihm jemand zuhört oder nicht. So wie die Nachtigall in der Geschichte singt, weil sie singt, weil es ihr ein Bedürfnis ist, weil es ihr Leben ist. Und das Ich, der Mensch? Warum ist es für ihn so wichtig zu wissen, für wen er spielt? Die Nachtigall hat sich zwar auch über die Tränen des Kaisers gefreut, aber sie hat auch nach ihrer Verbannung weiter gesungen.

Und was machen wir aus den nächsten Versen: Ahnte ich… Offensichtlich geht es hier um die Macht der Musik: nicht Tote zu erwecken – obwohl das der Nachtigall mit ihrem Gesang beim beinahe toten König gelingt -, aber so überirdisch schön zu sein, dass sie das Reich der Toten berühren kann. Da kommt einem doch Orpheus in den Sinn? Und dann bricht dieser Satz ab: Totenhaar… Was ist das denn? Soll ich mir jetzt das immer könnt ich rauschen wie ein Bach dazu denken oder bedeuten die drei Punkte etwas anderes? Unsagbares?

Und was ist mit der Verwandlung gemeint, die uns irgendwo unterbricht? Und wie fühlen die andern, die man nicht mehr sieht, ein Lebens-Lied tiefer als die Freunde? Und was machen wir aus den letzten beiden Versen? …sie wehen unter dem, was weht und vergehen, wenn der Ton vergeht. Könnte da gemeint sein, dass die Musik , während sie erklingt, eine Brücke baut zu dem, was vergangen ist? Zu unseren Erinnerungen vielleicht? Fragen über Fragen.

Kategorien: Literatur