Es muss schon an diesem Nachmittag Momente gegeben haben, in denen Daisy hinter seine Träume zurückfiel – nicht aus eigener Schuld, sondern wegen der kolossalen Lebendigkeit seiner Illusion. Sie war längst über Daisy hinausgewachsen und über alles andere auch.
Der große Gatsby
Die Geschichte dieser Woche ist ein Auszug aus Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald. Als junger Mann verliebt sich Jay Gatsby in Daisy, ein Mädchen aus besserem Hause. Weil er aus armen Verhältnissen kommt, ist es ihm nicht möglich, um sie zu werben. Deshalb richtet Gatsby sein ganzes Leben darauf aus, die Liebe von Daisy zu gewinnen. Er arbeitet sich zum Millionär hoch, und obwohl niemand seinen Hintergrund genau kennt oder weiß, wie er sein Geld verdient, freut sich die ganze New Yorker Gesellschaft über seine berühmten Partys und seine verschwenderische Gastfreundschaft. Daisy ist jetzt hübsch, oberflächlich und verheiratet mit Tom Buchanan. Gatsby hat sich mit dem Erzähler des Romans, Nick Carraway, angefreundet und ihn überredet, ein Treffen mit Daisy bei Nick zu arrangieren. Gatsby ist furchtbar nervös; Das Treffen läuft zunächst schlecht und so lässt Nick das Paar für eine Weile alleine.
Denkanstöße
Wie findest du die Dinge bisher? Gibt es Teile der Geschichte, die dir besonders aufgefallen sind? Man hat das Gefühl, als würde man am Beginn des Textes in einen ziemlich intensiven Moment zwischen Daisy und Gatsby hineinplatzen.
Sie saßen an den entgegengesetzten Enden des Sofas und sahen sich an, als wäre eine Frage gestellt worden oder läge einfach so in der Luft.
Ich frage mich, welche Frage gestellt wurde oder werden wird. Kennst du dieses Gefühl einer gewissen gespannten Unsicherheit in der Luft? Als ob gerade etwas passieren würde? Und wie fühlt sich wohl Nick, wenn er als Außenstehender diesen scheinbar privaten Moment zwischen den zwei Menschen miterlebt? Ich kann mir vorstellen, dass das für Nick seltsam und vielleicht nicht sehr angenehm ist, physisch Teil einer Situation zu sein und sich doch irgendwie emotional außerhalb dieser Situation zu befinden?
Es ist interessant, dass Daisys Gesicht mit Tränen verschmiert ist, während Gatsbys Gesicht glüht und Wohlbefinden von ihm ausstrahlt? Was hältst du von ihrer Beziehung? Als Gatsby Daisy zum ersten Mal sein grandioses Haus zeigt, heißt es:
Gatsby wandte seine Blicke keine Sekunde von Daisy ab, und ich glaube, er bewertete alle Dinge in seinem Haus noch einmal neu, je nach der Reaktion, die sie in Daisys viel geliebten Augen auslösten. Manchmal starrte er seinen Besitz so benommen an, als ob die Dinge jetzt, in Daisys leibhaftiger Gegenwart, gar nicht mehr real wären. Einmal wäre er fast eine Treppe hinuntergefallen.
Versuchen wir uns vorzustellen, wie dieser Moment für Gatsby sein muss. Er hat so viele Jahre darauf gewartet, dass er und Daisy wieder zusammenkommen, und jetzt ist sie endlich in seinem Haus. Wie würdest du dich fühlen, wenn du in seinen Schuhen wärst? Die Tatsache, dass er nach Daisys Antwort alles in seinem Haus neu bewertet, lässt doch annehmen, dass er sich in einer verletzlichen Position befindet? Als ob buchstäblich alles, sein ganzes Leben, von ihr abhängen würde? Und was hältst du davon, dass sich sein unglaubliches Zuhause in ihrer leibhaftigen Gegenwart nicht mehr real anfühlt?
Dieser Auszug scheint sich allgemein mit dem schwierigen Gleichgewicht zwischen Realität, Traum und Illusion zu befassen:
Es muss schon an diesem Nachmittag Momente gegeben haben, in denen Daisy hinter seine Träume zurückfiel – nicht aus eigener Schuld, sondern wegen der kolossalen Lebendigkeit seiner Illusion. Sie war längst über Daisy hinausgewachsen und über alles andere auch. Er hatte sich mit seiner ganzen schöpferischen Leidenschaft hineingestürzt, seine Vorstellung ständig ergänzt und mit jeder bunten Feder geschmückt, die daherkam. Kein noch so frisches und feuriges Wesen kann das übertreffen, was das Herz eines Menschen in seinem Geist aufstaut.
Hier bekommen wir doch das Gefühl, dass Gatsby sich seine eigene Version von Daisy erschaffen hat? Kannst du nachvollziehen, warum und wie es dazu kommen konnte? Und was hältst du von dem Satz, dass sein Herz dieses ideale Bild von Daisy in seinem Geist aufstaut? – Zeit für ein Gedicht.
Interludium: Abend
Das Gedicht Abend stammt von Joseph Eichendorff. Wie viele Romantiker drückt Eichendorff das innere Seelenleben des Menschen mit mächtigen Naturbildern aus. Durch diese Vergleiche mit dem Sichtbaren in der Natur kann über Unsagbares, über unbeschreibbare Gefühle gesprochen werden.
Versuche – wie immer- das Gedicht laut zu lesen, um diese Bilder nicht nur intellektuell, sondern über die Laute der Sprache auch sinnlich aufzunehmen. So kann Resonanz entstehen – du wirst sehen (-.
Denkanstöße
Wie fühlst du dich jetzt nach dem Lesen? Mich überrascht jedes Mal wieder dieser abrupte Beginn, dieses starke Bild von den eingestürzten Brücken.
Gestürzt sind die goldnen Brücken/ Und unten und oben so still! / Es will mir nichts mehr glücken,/ Ich weiß nicht mehr, was ich will.
Die Brücken müssen wohl etwas Schönes verbunden haben, denn sie waren golden. Und wenn man etwas Wertvolles verliert, dann ist man verständlicherweise traurig. Aber diese Intensität der Gefühle, dieser völlige Bodenverlust – kannst du das nachvollziehen? Kannst du das verstehen, dass man durch einen Verlust so im innersten Kern aus der Bahn geworfen wir, dass man nicht mehr weiß, was man will?
Und was machen wir mit den wahnsinnigen Scherzen des Herzens? Kannst du dir vorstellen, dass man aus Schmerz verrückt werden kann? Aber der Mensch im Gedicht wird nicht verrückt, er durchlebt das nächste Stadium im Trauerprozess: die Wut. Und die ist ordentlich heftig, denn
Die Felsen möchte ich packen/ Vor Zorn und Wehe und Lust/ Und unter den brechenden Zacken/ Begraben die wilde Brust.
Aber irgendwann ist dann auch diese Phase vorbei und es kommt der Frühling gegangen, wie ein Spielmann aus alter Zeit. Diese Bild für die aufkeimende Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit versöhnlich auseinanderzusetzen, finde ich besonders schön. Denn erst mit diesem Schritt wird Lösung und Weinen möglich. Was sagst du dazu? Hast du so etwas auch schon erlebt? Das Loslassen des Alten, des Verlorenen macht uns erst innerlich frei zum Weitergehen.
Manchen Menschen, wie Gatsby, gelingt das nicht. Sie können sich nicht mit dem Verlust abfinden und bleiben stecken, sozusagen fixiert auf den Traum, den es nicht mehr gibt. Und dann kann es dazu kommen, dass man nicht mehr sein eigenes Leben lebt, sondern eine Illusion.
Bei Eichendorff jedoch gelingt dem Menschen der Schritt, mit der Vergangenheit abzuschließen und neue, andere Brücken zu bauen – und das Herz wird auf einmal still. Denn der Mensch hat wieder zu sich gefunden. Wunderschön, nicht?