„Nicht nur, dass ich es nicht fertigbrachte, böse zu werden, ich brachte es nicht einmal fertig, überhaupt etwas zu werden, weder böse noch gut, weder Schuft noch Ehrenmann, weder Held noch Insekt. „
Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Die Geschichte dieser Woche ist der Anfang des Romans von Fjodor Dostojewski mit dem Titel Aufzeichnungen aus dem Kellerloch.
Gleich zu Beginn richtet sich der Autor direkt an die Leser. Dieser Gesprächston zieht sich durch den ganzen Roman. Die Hauptfigur der Geschichte ist ein Beamter aus St. Petersburg, der etwas Geld geerbt hat. Er wirkt bitter, frustriert, satt! Dennoch liegt in seinen Worten auch etwas seltsam Tröstendes, das mich beim Lesen anzieht. Er hat das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, kann es aber nicht in Worte fassen. Es liest sich fast wie ein Tagebuch, in dem sich aber auch lustige, surreale und sogar verwirrende Momente finden, die uns auf Trab halten. Der Text wirkt irgendwie verspielt auf mich, es gibt aber auch Momente, die wirklich berühren. Mach dir wie immer unterwegs Notizen zu deinen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen und markiere vielleicht auch Wörter oder Sätze, die dir besonders auffallen …
Denkanstöße
Wie findest du die Dinge bisher? Was sagst du zu Dostojewskis Notiz am Anfang? Für mich war es ziemlich seltsam, vom Autor gesagt zu bekommen, dass die Hauptperson seiner Geschichte imaginär ist und dennoch irgendwo in der Gesellschaft existieren muss. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es eine Einladung sei, meine Fantasie zu nutzen, um in den Kopf dieser Person einzutreten, als ob sie real wäre. Schon ein unerwarteter Start … Während wir hier kurz pausieren, fragen wir uns doch, wie wir zu dieser Figur stehen. Welche Gefühle steigen hoch, wenn wir ihre Worte hören? Vielleicht möchtest du jetzt den Text noch einmal laut lesen?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf seiner Seite bin oder nicht! Mag ich ihn? An einigen Stellen brachte er mich zum Lachen, an anderen ist er für mich sehr schwer zu fassen, aber das gefällt mir zum Teil auch an diesem Text. Beim erneuten Lesen fallen mir verschiedene Ebenen in der Persönlichkeit des Protagonisten auf. Er scheint ein ziemlich unberechenbarer Charakter zu sein, der sofort sagt: Meine Leber ist krank, na ja – dann mag sie noch ärger krank werden ! Und bald danach: Ich war grob und machte mir daraus ein Vergnügen. Was soll man von so einem Menschen halten? Kennst du jemanden wie ihn?
Obwohl der Erzähler manchmal ziemlich böse zu sein scheint, war ich überrascht, aber auch ein bisschen beeindruckt, als ich die Zeile las: Ich werde gerührt sein, wenn ich mich auch nachher, wahrscheinlich, selbst zerfleischen und vor Scham monatelang an Schlaflosigkeit leiden werde. Dies war ein Moment, in dem ich das Gefühl hatte, dass hier mehr gemeint sein könnte. Es ließ mich darüber nachdenken, wie es ist, wenn jemand die Beherrschung verliert oder einen anderen schlecht behandelt. Weißt du, wovon ich spreche? Kennst du vielleicht das Gefühl?
Er sagt auch: Je mehr ich von der Erkenntnis des Guten und von all diesem ›Schönen und Erhabenen‹ durchdrungen war, um so tiefer versank ich in meinem Schlamm, um so bereitwilliger war ich, völlig in ihm steckenzubleiben… Dieser Satz hat mich erwischt. Ich dachte mir: Wie kann es sein, dass wir umso trauriger oder boshafter werden, je mehr wir mit Güte oder Schönheit in Kontakt stehen? Was könnte diesem Menschen passiert sein, dass er auf einen solchen Gedanken kommt? Ein weiterer Moment, der mir auffiel, war: Nicht nur, dass ich es nicht fertigbrachte, böse zu werden, ich brachte es nicht einmal fertig, überhaupt etwas zu werden, weder böse noch gut, weder Schuft noch Ehrenmann, weder Held noch Insekt. Dieser Gedanke scheint viel Gewicht zu haben und scheint auch einen anderen, weicheren Ton zu haben? Warum hat dieser Mensch deiner Meinung nach nicht gewusst, wie man etwas wird? Kannst du dich auch auf ein Gefühl wie dieses beziehen, auf unerklärliche Weise ratlos zu sein, nicht zu wissen, was du tun sollst? Wenn ich diese Worte lese, fühle ich mich ein bisschen besser, weil sie mich daran erinnern, dass es manchmal in Ordnung ist, nicht immer in Ordnung zu sein. Es ist natürlich, sich manchmal so zu fühlen, oder nicht? Zeit für ein Gedicht.
Interludium: Leben
Das Gedicht, das ich dir heute vorstellen möchte, ist von Henry van Dyke und trägt den Titel Leben. Wie immer möchte ich dich ermuntern, das Gedicht laut zu lesen. Schau, ob beim Lesen Gefühle oder Ideen auftauchen, erlaube dir einfach, mit dem Gedicht zu sein – ohne Anforderung, ohne Erwartung. Je mehr du staunen kannst, desto mehr Gedanken und Gefühle kommen durch.
Ich mag die Idee, das Leben den Blick nach vorn gerichtet zu leben. Sich Hoffnung, Zuversicht und Begeisterung trotz des Auf und Ab des Lebens zu erhalten, ist jedoch nicht immer selbstverständlich. Das Bild des „Reisens“ spielt in diesem Gedicht von Henry Van Dyke eine große Rolle, er spricht vom Reisen mit Jubel und Die Reise wird mich freu‘n. Es lässt mich darüber nachdenken, wie wir uns durch das Leben bewegen und wie unsere Sichtweise oft unsere Ziele prägt. Was ist noch drin, was wartet noch auf mich? Immer noch auf der Suche nach dem, was ich gesucht habe, als Junge / neue Freundschaft, großes Abenteuer und eine Krone – In gewisser Hinsicht suchen wir immer noch nach dem, wonach wir schon als Kinder gesucht haben – Gibt es einen Teil der Kindheit, der uns ein Leben lang begleitet? Was denkst du?
Nicht um die Dinge trauern, die im trüben Gestern schwinden, noch mich in Angst verzehr‘n vor dem, was schleierhaft die Zukunft bringen mag. Ich finde, diese Beschreibungen der Zeit sind wirklich auffallend, die trübe Vergangenheit, die Zukunftsschleier. Halten uns die Gedanken der Vergangenheit oder der Zukunft in irgendeiner Weise von unserem Leben zurück? Wie stehen wir zu Vergangenheit und Zukunft – es scheint, als könnten wir beides nicht ganz sehen? Das ist ein Gedicht, bei dem mir durch erneutes Lesen immer mehr Gedanken und Perspektiven auf mein eigenes Leben kommen und ich neue Energie erhalte. Wie geht es dir dabei?