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Es war die beste Zeit, es war die schlechteste Zeit, es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Dummheit…

Der Schuhmacher

So beginnt der Roman von Charles Dickens über das Leben des Dr. Manette und seiner Tochter Lucie in zwei Städten, London und Paris. Hier treffen wir einen Mann namens Manette, der seit über 18 Jahren zu Unrecht in Frankreich inhaftiert ist. Manette hat alleine in einem Turm gelebt, einfach Mahlzeiten durch seine Zelle erhalten und sich mit der Herstellung von Schuhen beschäftigt. Er hat jeglichen Sinn für seine wahre Identität verloren, die durch jahrelanges Leiden zerstört wurde, und arbeitet dennoch an der Herstellung von Schuhen – eine Tätigkeit, die er nur im Gefängnis aufgenommen hat. Seine Tochter Lucie, die er seit seiner Inhaftierung nie mehr gesehen hat, trifft hier zum ersten Mal als junge Frau ihren Vater, begleitet von einem Mann names Mr. Lorry.

Aber wie kann man zu einem Menschen Verbindung herstellen, der sich selbst verloren hat? Was braucht so ein Mensch? Und kann ich ihm das geben? Wie immer kannst du dir unterwegs Notizen zu deinen Gedanken und Gefühlen machen und vielleicht auch Wörter oder Sätze markieren, die dir besonders auffallen oder dich besonders berühren…

Denkanstöße

Der Ausdruck „Familientreffen“ erhält hier eine ganz neue Bedeutung und Intensität, da Lucie nicht nur ihren Vater zum ersten Mal trifft, sondern auch die schwierige Aufgabe übernimmt, langsam zu versuchen, seinen verwundeten Geist und seine Seele wieder zum Leben zu erwecken.

Wie hat sich das wohl für Lucie angefühlt, ihren Vater zum ersten Mal zu treffen? Auch uns Lesern ist er fremd, genauso wie seiner Tochter. Es wird beschrieben, dass er eine Stimme hat, die in den Untergrund gegangen ist? Lies noch einmal, wie es ihm geht, wenn du ihn zum ersten Mal in seiner Zelle triffst:

Die Stimme klang wie das letzte matte Echo eines lange zuvor in die Ferne gerufenen Tons und hatte das Leben, den Klang der menschlichen Stimme so ganz und gar verloren, dass sie auf die Sinne wie eine Farbe wirkte, deren einstige Schönheit zu einem matten Fleck verblasste. Sie klang so gedämpft und verhalten, dass sie unter dem Boden hervorzukommen schien…

Was denkst du, sagt uns eine solche Stimme über einen Menschen? Wie würdest du dich einer Person nähern, die dir in diesem gedämpften Licht erscheint? Wie geht Lucie mit der Situation um?

Sie scheint die Einzige in der Gruppe zu sein, die keine Angst vor Manette hat. Es gibt ein paar Passagen, in denen ihre Begleiter agieren, als ob sie Angst davor hätten, was Manette Schreckliches tun könnte, während Lucie keine Angst vor dem alten Mann hat.

Sie aber saß vollkommen still unter seiner Hand und sagte nur mit leiser Stimme: »Ich flehe euch an, meine guten Herrn, bleibt zurück – sprecht nicht, rührt euch nicht.

Wie heißt Ihr, mein zarter Engel? So fragt der verwirrte Manette und doch sagt Lucie nicht „Ich bin deine Tochter“. Stattdessen antwortet sie: Oh, Herr, zu einer andern Zeit sollt Ihr erfahren, wie ich heiße, wer meine Mutter, wer mein Vater war, und wie ich nie etwas von ihrer schmerzlichen Geschichte erfahren habe. Jetzt aber, und hier, kann ich Euch dies nicht sagen. Was könnte der Grund sein, dass sie so reagiert? Was bezweckt Lucie mit ihren Appellen wenn…wenn…wenn…? Die Aufforderung weinet, weinet darum folgt den Appellen und schließlich weint Manette. Lucie sieht die Tränen ihres Vaters und nennt sie heilig und dankt Gott für sie. Was könnte dieser Moment für Vater und Tochter hier bedeuten? Wurde eine Schwelle überschritten? Wie können wir wissen, ob wir zu einem anderen Menschen durchgekommen sind?

Am Ende dieser Passage fühlen sich die Dinge immer noch ziemlich zerbrechlich an, da sowohl Vater als auch Tochter auf dem Boden sitzen, erschöpft von der emotionalen Szene, die gerade zwischen ihnen vorgefallen ist. Du fragst dich vielleicht, wie und ob die Teile eines Menschenlebens wieder zusammengesetzt werden können? Wie viel ist möglich? Wie viel sollten wir von uns und einander erwarten? Lucie und Manette haben noch eine lange Reise vor sich, aber sie haben hier trotzdem etwas ganz Wichtiges miteinander geteilt. Zeit für ein Gedicht.

Interludium: Stufen

Das neue Jahr hat kaum begonnen und es liegt jetzt noch so etwas wie „Neuheit“ in der Luft, das Versprechen einer Veränderung. Viele von uns haben sich beim Jahresübergang (wieder einmal) vorgenommen, etwas in ihrem Leben zu ändern, gleichzeitig ändert sich die Welt um uns pausenlos und immer schneller. Trotzdem nähert sich jeder Mensch diesem Thema auf unterschiedliche Weise, jeder passt sich dem Wandel anders an. Die härteren und abenteuerlustigeren unter uns umarmen und begrüßen ihn und suchen die Veränderung aktiv. Für andere ist das nicht ganz so einfach. Die scheinbar kleinsten Änderungen, wie z. B. einen anderen Weg zur Arbeit einschlagen zu müssen, werfen sie aus der Bahn.  

Denkanstöße

Das Gedicht Stufen erinnert mich immer daran, wie wichtig es ist, den Ruf des Lebens zu hören bzw. nicht zu überhören. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – Das hast du doch auch schon erlebt, oder nicht? Jeder neuen Arbeitsstelle, jeder neuen Beziehung, jeder neuen…. immer ist der Anfang – auch wenn er vielleicht Mut erfordert – frisch, neu, Leben verheißend. Das Gedicht spricht auch davon, dass jede Lebensstufe nicht ewig dauern darf. Warum darf und nicht kann? Könnte es mit dem Lebensrufe zusammenhängen, dem wir folgen müssen? Das Leben ruft uns zur Entwicklung. Stufe um Stufe. Das heißt, die Reise, der Neubeginn und Wiederanfang, das Abschiednehmen und Loslassen, die Freude und Trauer sind sozusagen systemrelevant, sie sind die Rahmenbedingungen dieses Lebens, die wir annehmen müssen. Die Frage ist nur wie? Das Gedicht beantwortet sie so: Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen. Und das fällt uns sooooo schwer, oder? Das ist in den meisten Fällen nicht unsere spontane, erste Reaktion auf Veränderung, nicht wahr?

Im zweiten Gedicht von Samuel Taylor Coleridge aus dem Jahr 1826 beleuchtet der Verfasser einen anderen interessanten Aspekt des Wandels. Er fragt, ob wir immer noch eine Beziehung zu einer anderen Person unterhalten können, wenn diese sich tiefgreifend verändert, wenn sie sich sehr stark von der Person zu unterscheiden scheint, die wir vorher kannten? Was könnte es von uns verlangen, dass wir uns trotz einer solchen Veränderung weiter um einen anderen Menschen kümmern?

Möchtest du jetzt das Gedicht noch einmal durchlesen? Vielleicht kommen dir noch ein paar Gedanken und Gefühle…Schau, was dir auffällt.

Was ist von den ersten beiden Zeilen zu halten? Ohne Zweifel ist’s ein leeres Los und hart zu tragen, zu sehn, wie alles sich verändert außer dir. Warum leeres Los? Was könnte in einer solchen Situation besonders schwer zu ertragen sein, wenn sich zwei Menschen ungleich verändern bzw. wenn nur einer sich ändert?

Wir werden auch gefragt: Doch warum über‘s Schwinden anderer klagen?Schwinden hört sich vielleicht seltsam alt an. Das Licht einer Kerze kann nachlassen, wenn es anfängt zu flackern, nicht wahr? Können Menschen auch so sein? Aber wenn ja, wäre es nicht natürlich, sich Sorgen zu machen? Vielleicht hängt das von der Ursache der Sorge ab: Ist es die schwindende Person, um die wir uns Sorgen machen, oder bin ich selbst es?

Das Gedicht spricht auch darüber, wie wir versucht sein könnten, unsere Liebe zu einem anderen aus Selbstsucht zu verstecken, weil wir ahnen, dass wir  gekränkt werden oder etwas verlieren könnten. Es fordert uns auch auf, die Menschen „für das, was sie sind“ in der Gegenwart weiterhin zu lieben. Macht Lucie im obigen Abschnitt das vielleicht für ihren Vater?

Kategorien: Literatur