„Du kannst nichts“, sagten sie, „du machst nichts“, „aus dir wird nichts“. Nichts. Nichts...Ein unbeschriebenes Blatt Papier, ein ungemaltes Bild, eine tonlose Melodie, ein ungesagtes Wort, ungelebtes Leben.
Wer bin ich?
Lieber Leser, liebe Leserin, heute möchte ich mit dir eine sehr kurze Geschichte lesen: „Im Spiegel“ von Margret Steenfatt. Ja, diese Geschichte wird auch in der Schule gelesen und ja, sie handelt von einem Jungen in der Pubertät. Aber: Ist das Thema vielleicht nicht doch eines, das uns Menschen beschäftigt- egal, wie alt wir sind? Ich für mich muss sagen, dass mich diese Geschichte persönlich sehr berührt. Ich bin neugierig, wie es dir beim Lesen geht. Wenn es dir möglich ist, versuche – wie immer – den Text laut zu lesen. Du wirst sehen, du kannst dann noch besser und noch tiefer in die Szene eintauchen. Wie immer kannst du dir während des Lesens Notizen zu deinen Gedanken und Gefühlen machen und Wörter oder Sätze markieren, die dir besonders auffallen …
Gedankensplitter
Wie fühlst du dich jetzt nach dem Lesen? Als ich zum ersten Mal den Beginn der Geschichte laut gelesen habe, war ich unheimlich traurig. Nicht, dass irgendjemand so etwas einmal zu mir wörtlich gesagt hätte. Aber – Hand aufs Herz – hatten wir nicht alle als Kinder manchmal das Gefühl, wir sollten anders sein. Keine Ahnung wie, aber eben anders. Auch wenn diese Worte nie ausgesprochen und vielleicht von unseren Eltern (oder uns als Eltern – wenn du selbst Kinder hast) nicht einmal gedacht wurden, aber diese Worte wurden/ werden „sprachlos“, mit Blicken transportiert oder mit anderen Wendungen wie: „Mach endlich deine Hausübung! So kannst du nicht hinaus gehen! Mit dir hat man nur Probleme! Du machst uns nur Sorgen! Dein Bruder ist so brav: Kannst du nicht auch so sein?…
Ich denke, du weißt, wovon ich spreche. Und wollten wir nicht alle schon einmal unseren Spiegel zertümmern, weil er uns nicht die Person zeigte, die wir sehen wollten, die wir glaubten, sehen zu wollen? Wollten wir nicht alle schon einmal – bewusst oder unbewusst – jemand anders sein? Ehrlich: Welcher Mensch kann wirklich behaupten, dass er weiß, wer er ist? Dass er der ist, der er sein möchte. Dass er zufrieden ist mit seinem/ihrem Ich?
Eine Weile verharrte er vor dem bunten Gesicht, dann rückte er ein Stück zur Seite und wie im Spuk tauchte sein farbloses Gesicht im Spiegel wieder auf, daneben eine aufgemalte Spiegelmaske.
Aber wenn wir versuchen, ein anderer zu sein, wenn wir versuchen, uns für einen anderen Menschen zu „verbiegen“, dann ist es eben doch nur eine Maske, eine Verkleidung und nicht das echte ICH, dies innerste Stimme, die einfach nur leben will. Oder wie denkst du darüber? Ist das Leben draußen nicht der ehrlichste Spiegel? – Zeit für ein Gedicht:
Interludium: Ich bin auf der Welt zu allein
Wie fühlst du dich? Hast du vielleicht ein Wort eingekreist, das dir aufgefallen ist? Warum ist es dir aufgefallen? Vielleicht magst du das Gedicht gleich noch einmal laut lesen und dabei besonders auf deine markierten Wörter achten. Welche Gedanken, Gefühle kommen hoch? Wie immer geht es nicht darum, herauszufinden, was der Autor vielleicht sagen wollte. Es geht um dich. Was fühlst du, wenn du dieses Gedicht liest? Welche Gedanken, Assoziationen schießen dir durch den Kopf, wenn du die Worte laut aussprichst?
Denkanstöße
…denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.
Ja, wer von uns ist in diesem Sinne nicht „gelogen“? – Rilke spricht in seinem Gedicht ein Du – Gott an. Für mich ist es einfach ein Begriff für etwas Größeres, die Einheit, das Tao… Ich finde, er drückt in seinen Worten sehr schön die Zerrissenheit, auch – wenn du willst – die Antithese aus, in der sich der Mensch, du und ich, befindet:
Ich bin zu allein und doch nicht allein genug, ich bin zu unwichtig und doch nicht unwichtig genug, dunkel und klug, ich will etwas schaffen in dieser Welt und will gleichzeitig wissen oder allein sein. Und jetzt kommt ein zentraler Satz für mich:
Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt
Ich will dich spiegeln, Gott, das All-Eine, die Einheit, das Vollkommene…. Dieses Ziel treibt uns Menschen an, wir wollen im Grunde unserer Seele so sein, dass wir Gott spiegeln. Ist das vorstellbar für dich? Wie denkst du darüber?