Geschichten wurden benutzt, um zu enteignen und zu verleumden. Aber Geschichten können auch genutzt werden, um zu befähigen und zu humanisieren. Geschichten können die Würde eines Volkes brechen. Aber Geschichten können diese gebrochene Würde auch wiederherstellen. (Ch.Adichie)
Wir erzählen uns Geschichten. Pausenlos. Wir erzählen sie über uns, über andere, über die Welt. Das Geschichtenerzählen macht uns zum Menschen, es lässt uns die Welt verstehen. Eine große Gefahr gibt es dabei jedoch: Die Gefahr, nur EINE EINZIGE Geschichte zu erzählen.
Die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie, eine große Geschichtenerzählerin der Gegenwart, beschäftigt sich in einem sehr hörenswerten Vortrag (den ich unten mit dem deutschen Transkript verlinke) mit dieser Gefahr der einen einzigen Geschichte. Dabei führt sie aus:
Es ist unmöglich über die einzige Geschichte zu sprechen, ohne über Macht zu sprechen. Es gibt ein Wort, ein Igbo Wort, an das ich immer denke, wenn ich über die Machtstruktur der Welt nachdenke. Es heißt „nkali.“ Es ist ein Substantiv, das in etwa übersetzt werden kann als „größer sein als ein anderer.“ Wie unsere Wirtschafts- und politischen Welten, definieren sich auch Geschichten durch das Prinzip von nkali. Wie sie erzählt werden, wer sie erzählt, wann sie erzählt werden, wie viele Geschichten erzählt werden, wird wirklich durch Macht bestimmt. Macht ist die Fähigkeit, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen, sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen. (…)
So kreiert man also eine einzige Geschichte, man zeigt eine Seite eines Volkes, und nur diese eine Seite, immer und immer wieder, und dann wird diese Seite zur Identität.
Mit Blick auf die heutige gesellschaftliche Situation in unseren westlichen Demokratien würde ich hinzufügen: Dann wird diese Seite von der Mehrheit als wahr akzeptiert.
Und das gilt nicht nur für Völker, einzelne Personen, Parteien, das funktioniert auch so bei allen gesellschaftlichen Themen. Wer die Macht hat, das heißt heute: die Medien kontrolliert, der besitzt die Macht, seine EINE Geschichte zu erzählen. Dagegen können wir nichts tun.
Aber wenn wir uns bewusst werden, dass es NIEMALS nur eine einzige Geschichte gibt – über keinen Ort, keine Person, kein Thema, dann können wir die Kraft finden, die einzige Geschichte abzulehnen und uns ein „Stück vom Paradies“ zurückerobern.
Ich bin ehrlich: Im Moment habe ich noch nicht das Gefühl, dass die Mehrheit der Gesellschaft dazu bereit ist. Ich hoffe sehr, dass die Eltern und Lehrer wieder beginnen, ihren anvertrauten Kindern auch alternative Geschichten zu erzählen. Denn viele Geschichten bedeuten Wahlmöglichkeit, sie bedeuten, sich in andere Sichtweisen hineinzudenken, sie sind ein Akt des Verstehen-Wollens. Geschichten können auch genutzt werden, um zu befähigen und zu humanisieren. Beginnen wir wieder damit!